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Im Südwesten

Artikel aus der
Stuttgarter Zeitung
vom 15.06.2002

 


Splitter vom Steinbeil lässt Archäologen neu rechnen
 
Ausgrabungen im Neckarschwemmland bei Rottenburg fördern eine kleine wissenschaftliche Sensation zu Tage
 
ROTTENBURG, Kreis Tübingen. Im Rottenburger Industriegebiet haben Archäologen einen für die Fachwelt hochinteressanten Fund gemacht: Jäger und Sammler benutzten geschliffene Steinbeile offenbar bereits 1500 Jahre früher als bisher gedacht.

Von Michael Petersen

"Schauen Sie, das waren schon sehr fixe Jungen", erklärt Grabungsleiter Claus-Joachim Kind. Er hält den Knochen eines mächtigen Auerochsen hoch, der deutlich sichtbar von Menschenhand bearbeitet wurde. "Die Wildbeuter wollten an das Knochenmark heran, das war gar nicht so einfach", erläutert Kind. Die Lebenszeit des Auerochsen lässt sich recht genau datieren: um das Jahr 7820 vor Christus. Wildbeuter, auch Jäger und Sammler genannt, bevölkerten das Neckartal zu einer Zeit, als ein ähnliches Klima herrschte wie heute.

Funde aus der Mittelsteinzeit (9500 bis 5500 vor Christus) sind eigentlich nicht selten. Aber eine Stelle wie die im Rottenburger Industriegebiet Siebenlinden sucht in Europa ihresgleichen. Seit 1990 lässt das Landesdenkmalamt hier graben, die Funde stoßen auch international auf großes Interesse. So klein Werkzeuge aus Feuerstein auch sein mögen, sie haben schon für manche Überraschung gesorgt. Kind hält ein spitzes, dunkles Teilchen zwischen zwei Fingern und erklärt: "Das ist ein Bruchstück eines geschliffenen Steinbeils, laut bisher gängiger Lehrmeinung wurde diese Technik erstmals in der Jungsteinzeit angewandt." Der Rottenburger Fund datiert aber 1500 Jahre früher. Deshalb reden Archäologen von einer "kleinen Sensation".

Aus Sorge vor ungebetenem Besuch, wurde die Öffentlichkeit in der Region eher zurückhaltend informiert. Nachdem nun vieles bereits ausgegraben wurde und es durchaus wahrscheinlich ist, dass der Grundstückseigentümer auf dem Gelände zumindest mittelfristig eine Fabrikhalle errichtet, berichtet Kind nun ausführlich über die Grabung.

Die Funde sind so gut erhalten, weil der Neckar bei Überschwemmungen den Ort mit immer neuen Lehmschichten überdeckte. Für das Grabungsteam hat dies allerdings auch Nachteile. Bei Sonne wird der Lehm schnell zu einer betonartigen Masse, bei Regen ähnelt der Boden glitschigem Gelee. Dennoch wurden allein in den vergangenen sechs Wochen 2500 Fundstücke aus der Erde geholt. Mit Spaten und Schaufel wäre hier nichts auszurichten. "Es ist eine ziemlich kriminalistische Arbeit", sagt Kind, während hinter ihm Studenten eine Erdschicht Millimeter für Millimeter abtragen.

Von anderen Grabungsorten hebt sich der in Rottenburg dadurch ab, dass sich hier eine klare Gliederung auf dem 100 Quadratmeter Gelände nachweisen lässt. Den Bewohnern könnte sie sich als Halbinsel des Neckars dargeboten haben 20 Feuerstellen wurden lokalisiert, Konzentrationen von Abfallprodukten lassen auf Werkplätze zur Herstellung von Steinwerkzeugen schließen. Das Rohmaterial, also Feuersteine und Hornstein, stammt teilweise von der Hochfläche der Alb und aus dem Donautal. Anhäufungen von Werkzeugen wie steinerne Messer und Schaber belegen handwerklich genutzte Stellen. Gruben mit Abfall von Feuerstellen wurden gefunden und der Nachweis erbracht, dass Tierknochen zumeist an abgelegenen Orten des Lagers deponiert wurden.

Grabungsleiter Kind deutet dies als einen Hinweis darauf, dass hier einige Dutzend Menschen während der Sommermonate gelebt haben. Sie jagten Rothirsche, Rehe und Wildschweine, haben sich "aber nicht gescheut, sich mit 800 Kilogramm schweren Auerochsen anzulegen". Mit Vorliebe wurden Haselnüsse verzehrt, aber auch Feldkohl, Knöterich und Weißer Gänsefuß. Dies lässt sich aus verkohlten Samen und Früchten schließen. Fischgräten fehlen völlig, die dürften die gezähmte Hunde verzehrt haben. Man hielt nämlich schon Haustiere: Zum Stadium der Ackerbauern und Viehzüchtern war es nicht mehr weit. Für Kind sind die Wildbeuter von Siebenlinden deshalb die "letzten Jäger und Sammler im Kreis Tübingen".

http://www.landesdenkmalamt-bw.de/archaeologie/grabung/siebenlinden.php
 
15.06.2002 - aktualisiert: 15.06.2002, 06:35 Uhr

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