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Edle Einfalt, stille
Größe
Klarheit der Linien und Flächen: ein Wohnhaus in Stuttgart, entworfen
von Schlude und Ströhle Kann ein Haus einfacher sein? Vier
Wände, ein Dach, gleichmäßiges Fensterraster, dazu noch
nüchtern geschlossene Stirnseiten - man könnte höchstens das
Dach weglassen.
Aber was die Stuttgarter Architekten Schlude und Ströhle mit dem
Wohnhaus Schlude in der Kleinen Falterstraße in Degerloch vorführen,
zeigt gerade das ästhetische Potential des eigentlich banalen,
herkömmlichen Siedlungshauses mit 45-Grad-Dachneigung. Wo keine
unterschiedlichen Baumassen aufgegliedert, keine Höhen gestaffelt und
keine Anbauten eingebunden werden, wo auch keine Wände zurückspringen
oder Gebäudeachsen einschwenken, da zählt die Proportion der reinen
Fläche, die pure Wirkung der Materialoberflächen und die klare
Fassung der elementaren raumdefinierenden Ecken und Kanten. Denn je kleiner der
Gestaltungsspielraum ist, desto präziser und sorgfältiger müssen
die wenigen Bestandteile des Baus aufeinander abgestimmt sein.
Schlude und Ströhle erreichten mit konsequenter Strenge und formaler
Logik ein vorbildhaftes Beispiel für eine Bauaufgabe des
Alltäglichen, die man sonst oft mit unbedachter Gestaltlosigkeit vor die
Nase gesetzt bekommt. Alle Bauteile sind auf das Zusammenspiel von zwei
Farbwirkungen abgestimmt: den Wänden aus unbehandeltem Douglasienholz und
den einheitlichen Grautönen von Betonsockel, Wellblechdach und
Fensterbrüstungen. Aus der funktionalen Notwendigkeit wurde eine
gestalterische Tugend gemacht, indem Dachrinne, Abflußrohre und die
Führungsschienen der Schiebeläden als flächengliedernde und
rahmende Elemente hervorgehoben sind - geradezu als Schmuck der Fassade. Somit
verschränken sich die zwei horizontalen Geschoßfelder mit den drei
durchgehend vertikalen Fensterstreifen zu einer rhythmisch ausgewogenen
Flächenkomposition.
Auf der Gartenseite ist über die Fassade ein Balkon- und
Rankgerüst aus ebenso metallgrauen industriellen T-Trägern,
Stahlrohren und Gitterrosten vorgesetzt. Durch die Schiebeläden, deren
Lamellen eine Nuance dunkler erscheinen, erhalten die Fassaden ihre reliefhafte
Plastizität und das je nach Stellung wechselnde asymmetrische
Schachbrettmuster: ein nahezu ornamentaler Nebeneffekt der simplen
Funktionalität. Eine überaus vorteilhafte Wirkung erzielt die klare,
undurchbrochene Dachfläche ohne den üblichen klobigen Dachausbau,
ohne aufgepfropfte Schrägfenster oder Antennen- und
Schüsselanhäufung. Der kleine metallische Schornstein setzt hingegen
genau den richtigen seitlichen Akzent. Weiterhin steigert die Streifenwirkung
der Dachwellen die Ausrichtung der Schräge und bindet sie in die alles
überziehende Schraffurwirkung der Fassaden ein. Man möchte sogar noch
den welligen Wurf der Vorhänge zum Gesamtkonzept hinzurechnen. Und wer
hätte so ein bürgerliches Accessoire den heutigen rationalisierenden
Architekten zugetraut?
Dieses Haus trifft die richtige Mitte zwischen zeitgenössischer
Eleganz und Einfügung in den nachbarlichen Baubestand zur Ergänzung
des städtebaulichen Rhythmus des Straßenbilds. Es versucht nur durch
die Holzbauweise, sich von seiner Umgebung abzusetzen. Also doch das leidige
Bedürfnis nach Distinktion! Und das stellt die Frage nach der
Verallgemeinerbarkeit: Dieser Materialtrend, der von den Architekten aus der
Schweiz und aus dem österreichischen Vorarlberg ausging (eben von Regionen
mit ausgeprägter Holztradition), feiert auch hierzulande immer neue
Erfolge. Allein im letzten Jahr stellte die Stuttgarter Zeitung Holzbauten der
Baugattungen Kindergarten, Schulbau, Uni-Wohnheim, Wohnsiedlung und
Seniorenresidenz heraus. Damit könnte es jetzt eigentlich genug sein. Im
Einzelfall sieht es ja unbestritten gut aus, aber es können doch jetzt
unmöglich alle stilbewußten Bauherren Holzhäuser bauen. So
warten wir noch auf den stinknormalen Bau, der nicht um seiner selbst und dem
Architekturtrend willen anders sein muß, sondern diese ebenso einfache
wie feine Stilistik der wohlgesetzten Linien und Flächen mit
ortsüblichen Putzwänden und Ziegeldach realisiert. Am Material allein
sollte diese formale Konsequenz nicht scheitern.
Das Degerlocher Wohnhaus hat jedoch noch eine weitere technische und
ökologische Berechtigung innerhalb der genannten Beispiele: Im Unterschied
zu den oft nur holzverkleideten Betonbauten ist es eine vollständige
Holzkonstruktion. Seine Spannweite von sechs Metern über den einen
durchgehend offenen Raum des Erdgeschosses realisiert es mit Trägern aus
Brettschichtholz, weil dieses eine höhere Festigkeit aufweist als
Vollholz. Die vorgefertigten Teile wurden in Tafelbauweise vor Ort in nur vier
Tagen montiert. Eine Zonierung zwischen Küchen- und Wohnbereich erfolgt
durch den selbsttragenden und ohne Befestigung mitten hineingestellten
Treppenblock aus Stahlelementen. Dessen filigrane Gitterstruktur ergänzt
im Innern folgerichtig die Materialdialektik des Außenbaus.
Von Marc Hirschfell
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