Stuttgarter Zeitung Kultur 26.5.2000



Archäologie mit Kopf, Herz, Bauch - und wenig Geld

Welche Bodendenkmale können erhalten werden? Fachleute diskutieren in Cottbus über Bewertung und Schwerpunktbildung

Die Rolle eines Herrn über Leben und Tod von Bodendenkmalen müssen die Landesarchäologen immer öfter und mit wachsendem Unbehagen spielen. Welche Möglichkeiten der Selektion bestehen und sinnvoll sind, darüber haben sie nun bei einem Kolloquium in Cottbus diskutiert. Es ging um die "Bewertung und Schwerpunktbildung in der Bodendenkmalpflege'', also um ein grundsätzliches Überdenken der eigenen Tätigkeit, wie der Verbandsvorsitzende der Landesarchäologen in der Bundesrepublik, Dieter Planck, feststellte. Genereller Hintergrund ist der Geld- und Personalmangel der Denkmalpflege, welche die vollständige Erfüllung des gesetzlichen Auftrags nicht erlaubt. Weder ist die Erhaltung aller Denkmale vor Ort möglich noch ihre Erforschung durch Ausgrabung.

Der Staat, so führte Hartmut Dorgerloh vom brandenburgischen Wissenschaftsministerium aus, ziehe sich immer mehr aus der Verantwortung zurück. Privatisierung und Outsourcing seien Stichworte dieser Tendenz, ein anderes die "repräsentative Ausgrabung'', die Feigenblattcharakter habe. In der Tat kanalisiert sie das Interesse der Öffentlichkeit kostengünstig und prestigeträchtig auf einen Punkt und lenkt damit davon ab, dass daneben vieles andere im Argen liegt.

Angesichts staatlicher Sparmaßnahmen sind die Denkmalpfleger immer häufiger gezwungen, auszuwählen, was erhalten, was ausgegraben werden muss. Das ist ein verantwortungsvolles Geschäft, denn es stellt die Weichen für die Zukunft: Was nicht gerettet werden kann, ist für immer verloren. Der Auswahl muss deshalb eine sorgfältige Bewertung der Bodendenkmale vorausgehen.

Das setzt selbstverständlich voraus, dass man die Objekte genau kennt. Und hier liegt schon ein grundsätzliches Problem der Archäologen. Vor der Ausgrabung sind die Bodendenkmale in der Regel nicht sichtbar, häufig nicht einmal bekannt. Man schätzt, dass achtzig Prozent nicht entdeckt sind und deshalb immer wieder einige bei Baumaßnahmen unbeabsichtigt und unerkannt beseitigt werden. Beim Trassenbau für Bahn, Straße und Erdgasleitung ist in Brandenburg eine Fülle unbekannter Bodendenkmale zu Tage gekommen. Prospektion, Vorwegerkennen, was im Boden liegt, ist deshalb ganz wichtig, darin waren sich in Cottbus alle einig. Baden-Württembergs Landesarchäologe Jörg Biel votierte dafür, mutig Schwerpunkte zu setzen und Verluste in Kauf zu nehmen, denn die seien ohnehin unvermeidlich.

Die Bewertung und Auswahl trifft der Archäologe - wie alle Wissenschaftler - in erster Linie mit dem Kopf, also nach objektiven, rationalen Kriterien. Aber auch mit Herz und Bauch, wie Sachsens Archäologiechefin Judith Oexle bekannte. Mit Gefühl habe sie schon die besten Entscheidungen getroffen. Schließlich spielt noch das besondere Engagement des Archäologen für eine bestimmte Epoche der Menschheitsgeschichte oder für eine Denkmalkategorie, die ihm besonders am Herzen liegt, eine Rolle. Dass einem mittelalterlichen Burgenforscher eine römische Villa rustica nicht gar so wichtig ist, ist nicht verwunderlich.

Bei der Abwägung wird auch von Bedeutung sein, wie gut erhalten die Funde und Befunde sind, ob sich ihr Erhalt oder eine Ausgrabung "lohnt''. Die Seltenheit einer Fundkategorie gilt ebenso als Kriterium wie ihr wissenschaftlicher Rang.

Mitunter wirken auch politische und finanzielle Einflüsse auf die Entscheidungsfindung des Archäologen ein. Erwähnt wurde das Verursacherprinzip, das vor allem in den neuen Bundesländern angewandt wird und bei dem der Bauherr die Ausgrabungskosten übernimmt. Das klingt verlockend. Inzwischen aber hat sich gezeigt, dass es zu wenig ergiebigen Grabungen führen und weiterhin dem Staat einen Vorwand dafür liefern kann, die Etatmittel noch weiter zu reduzieren. Brandenburgs Landesarchäologe Jürgen Kunow mahnte deshalb, die Archäologen dürften sich die Auswahl der Grabungsprojekte nicht von außen aufdrängen lassen.

Schwerpunktsetzungen versprechen intensiveren Erkenntnisgewinn, sie gehen aber immer zu Lasten anderer Projekte. Gegen eine räumliche Schwerpunktsetzung könnten benachteiligte Gebiete klagen. Die Bevorzugung oder der Ausschluss von Bodendenkmalen aus bestimmten Epochen ist eher selten. Natürlich wird überlegt, ob eine der seltenen bronzezeitlichen oder alamannischen Siedlungen einer der vielen bandkeramischen vorzuziehen sinnvoll wäre. Freilich, so einfach ist die Entscheidung nicht; erst die Kenntnis einer Vielzahl von gleichartigen Objekten lässt die Individualität erkennen.

In den letzten Jahren ist ein Schwerpunkt auf die Flächengrabung gesetzt worden. Gegenüber punktuellen Grabungen zeitigen großflächige Untersuchungen viel mehr Ergebnisse und lassen vielfältigere Verknüpfungen und Vergleiche zu. Sie sind aber auch teurer und bedingen damit den Verzicht auf mehrere Einzelgrabungen. Qualität hat eben ihren Preis. Und das gilt generell für die nach allen Regeln der Kunst und mit modernster Technik durchgeführten Grabungen.

Letztlich, so hat das Kolloquium in Cottbus ergeben, ist der Archäologe auf sein Wissen, seine Erfahrung und manchmal auf ein Quäntchen Glück angewiesen. Patentrezepte gibt es nicht. Was bleibt, ist die Verantwortung, die schwer wiegt - wie bei einem Richter über Leben und Tod.Von Dieter Kapff

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