Deutsche Archäologen orientieren sich an der Praxis
Europäische Vereinigung erörtert in Esslingen
aktuelle Probleme des Fachs - Große Unterschiede in den
Forschungsansätzen
In der kommenden Woche wird Esslingen zum Zentrum der
Archäologen: Zum ersten Mal trifft sich die Europäische
Archäologenvereinigung in Deutschland. Für wissenschaftlichen
Diskussionsstoff ist reichlich gesorgt - nicht nur bei der Bewertung
archäologischer Erkenntnisse.
Von Dieter Kapff
Europa wächst zwar immer mehr zusammen, aber Hindernisse bei
diesem Prozess gibt es reichlich. Was für die Politik gilt, trifft auch
auf die Archäologen zu. Denn noch gibt es keine europäische
Archäologie, sondern nur nationale und regionale Archäologien. Jedes
Land hat unterschiedliche Strukturen und Rechtsverhältnisse oder eigene
Interessenlagen, die, wie in Skandinavien und Großbritannien, von dem
Verständnis der Archäolgie als Bestandteil der Landesgeschichte
geprägt sind. Und jedes Land setzt eigene Schwerpunkte. Dies gilt
einerseits für Inhalte - so ist es kaum verwunderlich, dass in
Skandinavien die Römerforschung nicht gerade Vorrang hat. Andererseits
gilt dies auch für die Methodik und den Umgang mit Archäologie.
Freilich gibt es Bestrebungen zur Vereinheitlichung, zur
Festsetzung vergleichbarer Standards bei Forschung und Ausbildung. Die
Europäische Archäologenvereinigung (EAA) als privater Verein kann
hier aber nicht mehr als beraten und empfehlen. Die Politiker müssen
für die adäquate finanzielle und personelle Ausstattung, für
Ausbildungsrichtlinien und Rechtsgrundlagen sorgen. Immerhin können
Treffen wie jetzt in Esslingen dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut werden
- Vorurteile, die beispielsweise dadurch entstanden sind, dass britische
Archäologen Forschungsergebnisse nur zur Kenntnis nehmen, wenn sie in
Englisch publiziert sind.
So ist das Treffen in Esslingen mehr als nur der Austausch
wissenschaftlicher Ergebnisse. Er ist auch ein Austausch über kulturelle
Grenzen hinweg. Schließlich lebt auch die Archäologie nicht im
politikfreien Raum. So beschäftigen sich Skandinavier und Deutsche gerne
mit dem Missbrauch durch den Staat. Vor allem Skandinavier hinterfragen dabei
häufig die soziologischen, politischen, weltanschaulichen oder
geschlechtspezifischen Gegebenheiten der Forschung und der Forscher - und ihre
Auswirkungen auf die Forschungsergebnisse.
Vereintes Europa und Osterweiterung sind nicht spurlos an den
Archäologen vorbeigegeangen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
drängten osteuropäische Archäologen nach Westen. So ist die
Archäologie der Steppe zur Bronzezeit nun ein Thema - auch in Esslingen.
Insgesamt tragen die Osteuropäer dazu bei, dass sich auch innerhalb der
EAA die Schwerpunkte verschieben. Bisher dominierten die
britisch-skandinavischen Akzente, Deutsche und Franzosen hatten sich sehr
zurückgehalten. In Osteuropa ist die Archäologie jedoch immer noch,
trotz des zwangsweisen kommunistischen Zwischenspiels, stärker an der
deutschen Wissenschaft orientiert. Auch hat Deutsch als Wissenschaftssprache
dort noch einen guten Ruf.
Im Gegensatz zu den britischen Kollegen - namentlich von den
Universitäten - sind die deutschsprachigen Archäologen stärker
an den Fakten, an der Praxis orientiert. Briten und auch Skandinavier
bevorzugen mehr Theorie und Methodik als Arbeitsgebiete. In diesen beiden
Ländern birgt der Boden allerdings auch von Natur aus weniger Funde als in
Mitteleuropa, was möglicherweise weniger Anreiz zur Praxisnähe
bietet. Der britische Archäologieprofessor John Collis weist zudem auf
einen anderen Grund hin, wenn er scherzhaft übertreibend feststellt, in
Deutschland dürfe nur ausgraben, wer den Magister- oder Doktortitel habe,
in England aber fast jeder, vorausgesetzt er hat die Genehmigung des
Grundstückseigners. In der Tat werden in Großbritannien die meisten
Ausgrabungen von privaten archäologischen Vereinen getragen. Ein Professor
mag sich da gerne vom handwerklichen Teil seines Fachs weg und hin zum
Intellektuellen getragen fühlen.
Die angebliche Theoriefeindlichkeit der mitteleuropäischen
Archäologen bewahrt sie allerdings vor der Gefahr, in sich stimmige, aber
völlig abgehobene, nur noch geistreiche Gedankengebäude zu errichten,
die bei der Überprüfung an der Realität wie Seifenblasen
platzen. So haben sich im Laufe des letzten Jahrzehnts die "new archaeology'',
die "processual'' und "postprocessual archaeology'' und die "postmodern
archaeology'' überlebt, im Osten natürlich die kommunistische. Allzu
abstruse Beiträge dieser Art sind für die Esslinger Tagung abgelehnt
worden, was den Organisatoren einige Absagen eintrug.
In guter Tradition beschäftigen sich die Archäologen in
Esslingen vorwiegend mit der Vergangenheit. So sind mitteleuropäische
Archäologen bei Untersuchunen über die Veränderungen der Umwelt
und ihre Beziehungen zum Siedlungswesen stets führend gewesen. Die auch
unter modernen Umweltaspekten interessante Frage der
Landschaftsveränderung unter menschlichem Einfluss wird nun auch in
anderen Archäologien beachtet.
Archäologen interessiert auch der Übergang von der
Jungsteinzeit zur Bronzezeit, als die fast einheitliche bandkeramische Kultur
in einzelne Kulturgruppen aufgesplittert war, von denen einige - zu ihnen
gehörte Ötzi - schon das Kupfer kannten. Sie fragen sich, wie und
warum dann in der Bronzezeit deutliche soziale Unterschiede erkennbar werden,
und die Herren in Burgen ihre Gefolgschaft zusammenhalten und den Besitz
schützen. Welche Rolle spielten bei den Wechseln Klimakatastrophen und
Rohstoffmangel, Erfindungen und Innovationen, Handel, Krieg und Zuwanderung
Fremder?
Was Letzteres anbetrifft, so bietet die DNA-Analyse Antworten.
Anwenden lässt sie sich bei Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alten
Knochen. Das Verfahren wird immer öfter verwendet, ist allerdings noch
sehr teuer und verlangt schon bei der Ausgrabung peinlichste Sorgfalt. Die
DNA-Analyse lässt zum Beispiel erkennen, ob zwei nebeneinander bestattete
Menschen miteinander verwandt waren oder ob einer - trotz ansonsten
gleichartiger Bestattungsumstände - einem ganz anderen Menschenschlag
angehörte.
Doch die Archäologen werden sich in Esslingen nicht nur mit
Vergangenem, sondern auch mit der Zukunft beschäftigen. Mit Computer und
Laptop werden Funde und Befunde dokumentiert, Grabungspläne gezeichnet,
Verbeitungskarten erstellt. Die Computerisierung der Archive, Text wie Bild,
und das Verlinken von Luftbildern mit dem Geografischen Informationssystem
(GIS) macht riesige Datenmengen an beliebigen Standorten verfügbar.
Das ist nicht nur für die Wissenschaft von Vorteil, sondern
ermöglicht auch einem breiten Publikum und neuen, besonders jungen
Benutzerkreisen leichteren Zugang. Ob dies allerdings in jedem Fall
gewünscht ist - so erhalten auch Raubgräber diese Informationen - und
ob die verschiedenen Computersysteme miteinander kompatibel sind, darüber
gehen die Meinungen der Archäologen in Europa auseinander.
Gedacht ist auch an virtual reality, das dreidimensionale
Rekonstruieren von Gebäuden und Landschaften, wie in der Troia-Ausstellung
zu sehen. Angemahnt werden gemeinsame Standards und eine
Qualitätskontrolle der ins Internet gestellten oder auf CD-Rom
verbreiteten Daten. Und schließlich bedarf es viel Arbeit und viel
Personals, die Dateien ständig zu aktualisieren und vorhandene
Bestände erst einmal einzulesen. Daran aber hapert es bei den
Archäologen allüberall in Europa.
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