StZ Feuilleton 01.09.1997



Fassadenspiel mit dem Unfunktionalen

Anmerkungen zu zwei neueren Geschäftshäusern in der Stuttgarter Innenstadt

Geschäftshäuser in City-Lage gehören zur Alltagsarchitektur. Wie bei der großen Masse des Bestands, so reicht auch bei Neubauten das Spektrum von herausragenden Einzelleistungen bis zu banaler Durchschnittlichkeit. In der Mitte, bei qualitätvollen, ansehnlichen Bauwerken, die auch neben Glanzlichtern bestehen können, ohne sie zu übertrumpfen - da liegt das Manko. Aber nur mit solchen Bauten kann ein homogener Stadtraum entstehen, denn ein architektonischer Meilenstein neben dem anderen wäre unerträglich. Die Kunst liegt in der Einpassung bei gleichzeitiger Individualität.

Das für die Projektentwicklungsgesellschaft Codic gebaute Geschäftshaus Kronprinzstraße 11 füllt sich nach seinem Verkauf an Investoren jetzt langsam mit Mietern, Pächtern und Kunden. Der formal strenge Bau paßt sich ein und fällt doch auf. Dieselben Architekten, HPP Hentrich- Petschnigg& Partner Stuttgart, haben fast gleichzeitig den Neubau auf dem ehemaligen Firnhaber-Areal geplant.

Als Eckhaus zur Gymnasiumstraße steht der Kubus des Hauses Kronprinzstraße 11 neben der meisterhaften Rückseite des Mittnachtbaus von 1926. Die Meßlatte lag also hoch. HPP haben sie nicht übersprungen, aber erfolgreich angerissen. Die transparente Glasfassade, eine Pfosten-Riegel-Konstruktion, arbeitet ausschließlich mit der geometrischen Proportionierung des Fensterrasters. Die klar konstruktiv trennenden Stahlprofile der Fensterrahmen und Geschoßlinien erzeugen ein spannungsreiches Wechselspiel von Horizontal- und Vertikalausrichtungen. An der Kronprinzstraße bildet die Erschließungszone, bestehend aus Aufzug, Flur und Treppenhaus, einen deutlichen Vertikalakzent über dem Eingang. Schließlich stellt der knapp hervorragende Turmbauteil zusammen mit den Terrassengeländern des zurückgesetzten Dachgeschosses einen informellen Bezug zum Mittnachtbau her. Ein überzeugender Entwurf, dem das Gefühl für Proportion und Maßstab anzusehen ist, nicht zuletzt, weil auf plumpe Normfenster aus dem Industrie-Repertoire verzichtet wurde.

Das zweite Gebäude von HPP in der Innenstadt ersetzt den Firnhaberbau, der im Herbst 1992 durch einen Großbrand zerstört wurde. Die Bestürzung über den Verlust dieses Bauwerks hielt sich jedoch in Grenzen. Schließlich war das Stadtbild um ein Musterbeispiel des Betonbrutalismus ärmer. Fünf Jahre danach sind nun die letzten Arbeiten am Neubau abgeschlossen. Die Erwartungen waren groß, war doch vor allem die historische Bebauung der Calwer Straße von dem grobschlächtigen Monstrum permanent beleidigt worden.

Nach wie vor bietet die Kronprinzstraße in ihrem südlichen Abschnitt ein Bild des Jammers: Tiefgaragenrampe hier, unterirdisches Parkhaus dort. Die Alte Poststraße führt als zerfaserter Fußweg quer durch die Brache. Der Straßenraum blieb seit der Kriegszerstörung unsinnig aufgeweitet. Man hätte sich gewünscht, daß nach dem Abriß der Firnhaber-Ruine der Neubau an die Straßenkante vorrückt und wieder eine verdichtete Urbanität schafft - doch nichts ist geschehen. Der Neubau hält sich an die alte Baulinie. Also ein langer Riegel, der sich an die Rückwände der Calwer Straße anlehnt. Den Architekten blieb nichts anderes übrig, als eine zu lange Fassade zu bespielen, ohne auflockernden Querriegel oder Höhensprung, vorne glatt, oben glatt und seitlich: aalglatt - doch darauf kommen wir noch. Das Konzept des Geschäftshauses an der Kronprinzstraße konnte HPP hier nicht anwenden. Eine einheitliche Glasfassade nur mit der Fensteraufteilung zu proportionieren, wäre an der schieren Größe gescheitert.

Also wie dann? Das Grundgerüst bietet hier wie dort die Pfosten-Riegel-Fassade. Wie in der Nr. 11 mit Glas ausgefacht sind zwei Ladengeschosse und zwei Treppenhäuser. Dabei ist die Transparenz gar nicht immer erwünscht. Das im Frühjahr eingezogene Möbelhaus hat die Glasflächen im ersten Stock alle wieder zugeklebt. Es bleiben drei große Fassadenflächen übrig, denen man weißverputzte Wandscheiben vorlegte mit Fensterbändern auf drei Etagen. Diese klaren Flächen sind begrüßenswert, denn sie erlösen uns von der ewigen Steinverkleidung. Zur ironischen Auflockerung schieben sich die Wandscheiben ein Stückchen vor die Verglasung, und die Jalousiekästen ragen ebenso einseitig vor die Putzwand. Nett. Doch trotz der ordentlichen Aufgliederung bleibt der Gesamteindruck für den Stadtgänger von ermüdender Monumentalität.

Ganz anders ist das altstädtische, kleinteiligere Umfeld der Calwer Straße. Das Neubauvolumen belegt hier vier der ursprünglichen Parzellen und ist in zwei bis drei Abschnitte aufgefaßt, je nach Lesart. Der erste, vom Rotebühlplatz aus gesehen, ist mustergültig: ein eindeutiges Bekenntnis zeitgenössischer Gestaltung, wie eine Synthese aus Neuer Sachlichkeit und DeStijl. Zwischen dem verglasten Treppenhaus und ebensolchem Aufzugsschacht erstreckt sich die weiße Putzwand diesmal bis zum Boden, also ohne ihre Vorhängung zu demonstrieren. Davor wiederum hängt eine ziegelrote Wandscheibe asymmetrisch in der Luft, und zwar so plastisch, daß Fensterschlitze den Spalt zwischen beiden Flächen überbrücken. Plane Putz- und Glasflächen treten in ein Spannungsverhältnis mit linearen Brüstungsgittern vor den stehenden Fenstern. Da dieser Bauteil Wohnungen birgt und Schlafzimmer verdunkelt werden müssen, gibt es hier - jawohl, heute noch: Fensterläden! Sie steigern vorteilhaft die Plastizität vor der Wandfläche. Durch Untergliederung und Farbzitat paßt sich dieser Bauteil ohne Anbiederung in die Umgebung ein.

Leider wurde dieses Gestaltungsvokabular nicht für die weiteren Abschnitte übernommen. Großflächige Schaufenster und Fensterbänder, welche die Büronutzung mitteilen sollen, sprengen den Maßstab. Die Passage zur Kronprinzstraße reißt ein überbreites Loch in den Baukörper. Ihre abschüssige Rampe zur viel kleineren Öffnung am anderen Ende wirkt wie ein Saugtrichter für den Kundenstrom. Der Bauabschnitt fängt stark an und hört schwach auf. Insgesamt erfolgte eine Verbesserung der Situation, doch manch lobenswerter Ansatz wurde nicht konsequent weitergeführt.Marc Hirschfell

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