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Kleindenkmale
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Sühne und Totengedenken Am Haslacher Weg, an der alten
Markungsgrenze zwischen Herrenberg und Haslach, stößt der
Spaziergänger auf ein steinernes Kreuz, das tief in der Erde
steckt. Es ist noch einen halben Meter hoch und hat knapp 30 Zentimeter
lange Arme. Ein Grabkreuz? Liegt hier einer beerdigt? Nein, es ist ein Sühnekreuz,
das schon rund 500 Jahre auf dem Buckel hat.
Das schon deutlich verwitterte Kleindenkmal erinnert an Lebensumstände,
die uns heute fremd sind. Es ist Ausdruck von Vorurteilen und
Problemen und läßt erkennen, wie Streitfälle damals
nicht juristisch, sondern pragmatisch gelöst wurden.
Hier, an der Gemarkungsgrenze, sollen sich, volkstümlicher Überlieferung
zufolge, zwei Schäfer um Weideland für ihre Herden
gestritten haben. Der Streit wurde so handgreiflich und so heftig geführt,
daß am Ende beide tot auf der Strecke blieben. Schäfer
waren in der bäuerlich-handwerklich geprägten Welt des
Mittelalters und der frühen Neuzeit gesellschaftliche Außenseiter.
Sie lebten unstet und draußen in der Natur und fühlten sich
an die Verhaltensnormen der Dörfler oder gar Städter nicht
gebunden.
Ob es freilich zwei Schäfer waren, die hier den Tod fanden,
oder ganz andere Personen, von denen einer den anderen erschlagen hat,
kann niemand sicher sagen. Nur daß dem Opfer ein Sühnestein
gesetzt wurde, ist augenscheinlich. In Herrenberger Archivalien sind
aus dem 15. Jahrhundert drei Fälle von Totschlagssühne überliefert.
Wenn einer einen Mitmenschen getötet hatte, so kam es meist zu
Blutrache und privater Vergeltung des Unrechts durch die
Hinterbliebenen des Opfers. Das führte dann zu endlosen
Familienfehden, denn die staatliche Strafverfolgung war entweder
unwirksam oder gar unerwünscht. Um den für die Gemeinschaft
nötigen Rechtsfrieden wiederherzustellen, unterstützte die
Kirche den Abschluß eines friedenstiftenden Sühnevertrags,
den beide Parteien miteinander aushandelten.
Solch ein Sühnevertrag sah eine finanzielle Entschädigung
der Hinterbliebenen vor, der Täter mußte auch Gebühren
an weltliche und kirchliche Vermittler entrichten und eine Totenmesse
für das Opfer stiften. Er bezahlte die Aufstellung eines
steinernen Sühnekreuzes in der Nähe des Tatorts, zu dem dann
Opfer- und Täterfamilie samt geladenen Gästen versöhnlich
in feierlicher Kerzenprozession zogen.
In einem erhaltenen Sühnevertrag von 1474 aus Herrenberg ist
festgelegt, daß der Übeltäter ,,zu trost und Heyl des
erslagen sele in der Marck Heremberg . . . ein steinin Crutz'' setzen
muß. Wegen der besseren Öffentlichkeitswirkung ,,verlegte''
man den Ort des Verbrechens gern an einen Weg oder eine Straße,
wo die Vorüberkommenden das Sühnekreuz besser sehen und sich
an die Geschichte erinnern konnten. Eine Inschrift auf dem Kreuz war
nicht erforderlich, denn die einfache Bevölkerung hätte sie
damals gar nicht lesen können. Die Steinkreuze nahm man gerne als
Orientierungspunkte und nannte die Flur danach: Beim Kreuz, Kreuzäcker.
Die hohe Zeit, Sühnekreuze zu setzen, war das 15. und 16.
Jahrhundert, in denen dieser Brauch gängig, ja alltäglich
war. Die Reformation drängte die ausgefeilten, umfangreichen
katholischen Sühnezeremonien zurück. Der Dreißigjährige
Krieg, der die Bevölkerung dezimierte, ließ die Erinnerung
weiter schwinden. Doch der Brauch blieb auch in protestantischen
Gegenden lebendig.
Im 17. bis 19. Jahrhundert, als der Staat die Rechtspflege stärker
in die Hand nahm, sind keine Sühnekreuze mehr gestiftet worden.
Nunmehr setzte man Gedenkkreuze, die an einen tödlichen Unfall
(mit dem Fuhrwerk oder durch Blitzschlag etwa) oder an einen Totschlag
(wenn ein Wilderer einen Forstmann erschoß) erinnern sollten. Im
Kuppinger Wald gibt es aus dem frühen 17. Jahrhundert solch einen
,,Forstknechtstein''.
Wenn Steine reden könnten, sie erzählten uns gar erschröckliche
Moritaten, Geschichten aus einer längst vergangenen Phase der
Rechts- und Sozialgeschichte. Auch wenn angesichts eines Sühnekreuzes
der ehrfürchtige Schauer uns heute nicht mehr erfaßt, wenn
die Angst vor Spuk und Verwünschungen, die dem gelten, der das
Steinkreuz beseitigt, uns nicht mehr schrecken können, sollten
wir diese Kleindenkmale, hinter denen Menschenschicksale stehen,
pfleglich behandeln. Allzu viele sind in unserem Jahrhundert schon
verschwunden. dka
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