Es stand in der »Stuttgarter« ... am 16.8.1997

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Gewaltige Bagger fressen ein Loch in die Vergangenheit

Wachsender Flächenbedarf im Braunkohletagebau bedroht zahlreiche archäologische Denkmale / Von Dieter Kapff

Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Verbraucht wird alles, was sich verbrauchen läßt - auch die Landschaft. Darüber klagen die Naturschützer. Die Landschaft, in der wir leben, ist aber nicht nur Natur, sie ist eine Kulturlandschaft. Und so bedeutet Flächenverbrauch häufig auch Verlust an kulturellem Erbe, das im Boden steckt. Das wird oft übersehen. Und deshalb hat das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz vor kurzem auf die Problematik hingewiesen und sie mit Beispielen aus dem Rheinland verdeutlicht.

Seit dem 19. Jahrhundert bezahlt die Gesellschaft in zunehmendem Maße mit großflächigen Landverlusten und Landschaftszerstörung für Wohlstand und Komfort. Industrialisierung und Wirtschaftswachstum, Verkehrswegebau, Versorgungs- und Entsorgungsleitungen, Deponien und natürlich Siedlungsbau für die wachsende Bevölkerung sind die Ursachen; auch die Rohstoffgewinnung, zum Beispiel der Braunkohlentagebau im Linksrheinischen, zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach. Auf 85 Quadratkilometer Fläche wird hier seit 1978 Braunkohle abgebaut, ein preiswerter fossiler Brennstoff, aus dem zu 85 Prozent Strom erzeugt wird. In NRW stammen 40 Prozent des Stroms aus Braunkohle.

Abgebaut werden die Kohleflöze in drei großen Tagebauen, in Hambach, Garzweiler und Inden, in bis zu 350 Meter Tiefe. Darüber liegen gewaltige Mengen an Abraum, die zuvor entfernt, umgeschichtet, anderswo aufgehäuft werden müssen. Das Ausmaß der Landschaftszerstörung und -veränderung kann man sich kaum vorstellen. Ein 3,5 Quadratkilometer großes Loch und daneben eine 200 Meter hohe, langgestreckte Abraumhalde, die Sophienhöhe, ,,renaturiert'' mit Wald, Seen, Wanderwegen und Aussichtspunkten.

Die Abbaugebiete liegen in der rheinischen Lößbörde, einem klimatisch begünstigten Gebiet mit überaus fruchtbaren Böden. Die Landschaft ist deshalb seit 7.000 Jahren besiedelt. Archäologische Zeugnisse aus allen Epochen sind dicht gesät. Es ist eine der bedeutendsten Siedlungskammern Europas.

Der Wirtschaftsfaktor Braunkohle wird unter den Aspekten Energieversorgung und Versorgungssicherheit sowie den 12.000 damit verbundenen Arbeitsplätzen so hoch veranschlagt, daß die Erhaltung von Kulturdenkmälern in der Interessenabwägung keine reale Chance hat. Nicht nur Kulturgut wird geopfert, auch ideelle Werte zählen nicht: Heimat, Nachbarschaft, Tradition. 25.000 Menschen müssen umgesiedelt werden, denn ihre Häuser in 30 Ortschaften, seit Jahrhunderten bewohnt, ,,fallen ins große Loch'', wie die Leute sagen. Jährlich fressen die Riesenbagger ein 350 Hektar großes Loch in die Vergangenheit. Archäologen versuchen zu retten, was zu retten ist. Doch die Größe der Aufgabe stellt sie vor eine ungewohnte Situation. Die Flächen sind so riesig, daß ,,höchstens fünf Prozent des bedrohten Areals ausgegraben'' werden kann, sagt Harald Koschik, Leiter des Rheinischen Amts für Bodendenkmalpflege, der sich als ,,Anwalt einer stummen Materie'' versteht, eben der Geschichtszeugnisse im Boden. Auf dem großen Rest ist nur Prospektion möglich, die ergibt dann, wo was unbesehen zerstört wird.

Die mit 30 Mitarbeitern besetzte Außenstelle Titz-Höllen ist nur für das Braunkohlenabbaugebiet zuständig. Als zusätzliche Finanzquelle ist 1990 eine Stiftung zur Förderung der Archäologie im rheinischen Braunkohlerevier ins Leben gerufen worden, die aus den Zinsen jährlich 1,3 Millionen Mark zur Verfügung stellt. Die Stiftung, es ist die größte für die Archäologie in ganz Europa, wird Ende 1997 ein Kapital von 30 Millionen Mark haben, das vom Land NRW, der Rheinbraun AG, die den Kohleabbau betreibt, und in geringem Maße auch vom Landschaftsverband Rheinland und privaten Sponsoren eingezahlt wurde. Zum Vergleich: Düsseldorf hat im Etat 1997 landesweit 8,1 Millionen Mark für Archäologie vorgesehen.

Im Braunkohlenrevier wird gute, im Methodischen beispielhafte Archäologie betrieben. Aber ,,das lindert nicht den Schmerz über den immensen Verlust an kulturellem Erbe. Ungeschehen machen kann sie den Verlust nicht'', dämpft Ministerialrat Professor Heinz Günter Horn vom Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sport, bei dem der Denkmalschutz ressortiert, die Freude.

Opfer des Kohletagebaus sind nicht nur jungsteinzeitliche Bauerndörfer, bronze- und eisenzeitliche Siedlungen samt Friedhöfen, sondern auch Spuren der Römer, Gutshöfe, Tempel und eine seit 2000 Jahren benützte Straße von Köln zur Kanalküste, die nördlichste der großen Ost-West-Verbindungen auf dem Kontinent. Sie liegt unter der alten B 55 und wird auf acht Kilometer Länge abgebaggert. Vom Wohn- und Wehrturm der Burg Reuschenberg aus sind die Großraumbagger schon zu sehen. Die stolze Burg, Zeuge des hochmittelalterlichen Landausbaus, ist Ziel von Bauhistorikern und Archäologen, bevor sie 1999 real aus der Geschichte getilgt wird.

© 1997 Stuttgarter Zeitung, Germany 16.8.1997

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