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Ein 450
Jahre alter Koloß
3500 Pfund Heller für den Kirchturm Mächtig und
stolz thront der Turm der Bietigheimer Stadtkirche seit 450 Jahren über
den Dächern von Bietigheim. Daß der steinerne Methusalem
seine Existenz einem tragischen Unglück verdankt, daran erinnert
heute nur noch eine kleine Tafel an dem Gotteshaus: Es muß an
jenem frühen Morgen des 1. März 1542 ein ohrenbetäubendes
Getöse gewesen sein, als der alte Bergfried der Bietigheimer Burg
einstürzte. Schließlich überliefern die
Geschichtsschreiber, daß der Lärm bis auf den Hohenasperg zu
hören gewesen sei. Unter der Steinlawine wurden neun Menschen
begraben und etliche Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft
zerstört.
Zeitgenössische Bietigheimer Annalen und archäologische
Untersuchungen des Landesdenkmalamts aus den Jahren 1984/85 verraten,
daß der Bergfried im südwestlichen Teil der heutigen Kelter
gestanden hat. Das Bauwerk, das eine Seitenlänge von 11,50 Meter
und eine Mauerdicke von 3,50 Meter hatte, diente als Schutzraum im
Verteidigungsfall und befand sich in unmittelbarer Nähe zum
Gotteshaus.
Für den Bau der Stadtkirche über der alten Burgkapelle
hatten die Bietigheimer Anfang des 15. Jahrhunderts wohl teilweise
Steine aus den Ruinen der Ende des 13. Jahrhunderts zerstörten
Burg verwendet. Einige Teile der Burg wurden vermutlich direkt in den
Sakralbau integriert. Wie sich erst jetzt herausstellte, könnte
die mit 1,60 Meter außergewöhnlich dicke Nordwand des Chors
der Rest des Palas, also des eigentlichen Wohngebäudes der Burg,
gewesen sein.
Den benachbarten Bergfried hatten die Bietigheimer kurzerhand in
einen Glocken- und Landwachtturm umfunktioniert. Sie zimmerten einen
Fachwerkaufbau zusammen, in dem eine Wohnung für den Hochwächter
und der Glockenstuhl untergebracht wurden. Doch die damaligen
Bauarbeiter hatten die Statik des Turms wohl überschätzt.
Klaffende Risse am Mauerwerk wurden nicht beachtet, und auch eine
herzogliche Baukommission war über den Zustand des aufgestockten
Kolosses nicht beunruhigt. Der Turm stürzte ein und löste
einen Bauboom in der Stadt aus.
Das ganze Jahr 1542 hindurch waren Bietigheimer, Ingersheimer und Bürger
aus Löchgau in Fronarbeit mit dem Abräumen des Schutts beschäftigt.
Sie mußten den Bergfried bis auf die Fundamentmauern abbrechen
und das Gelände einebnen. Auf einen Kirch- und Landwachtturm
wollte die Stadt aus vielen Gründen aber nicht verzichten,
beispielsweise, weil der Hochwächter die Aufgabe eines
Feuermelders übernahm.
Nachdem die herrschaftlichen Baumeister Martin Vogel, Steinmetz zu
Markgröningen, und Meister Georg, Maurer zu Weinsberg, die Örtlichkeiten
besichtigt hatten, wurden der Bietigheimer Steinmetz Bernhard Münchinger
und sein Bruder Meister Konrad von Ötisheim mit dem Bau
beauftragt. Dieser war wohl ein recht mühseliges Unterfangen,
denn sämtliches Baumaterial mußte aus den Markgröninger
Steingruben herangefahren werden, weil die Quader des Bergfrieds nicht
mehr für den Bau zu gebrauchen waren.
Das Erdgeschoß des neuen Kirchturms mit dem gotischen Portal
wurde nach einer Inschrift bereits im Jahr 1544 aufgerichtet. Bis zur
endgültigen Fertigstellung verstrichen aber noch weitere drei
Jahre. Die hohen Kosten von 3500 Pfund Heller teilten sich damals die
Stadt und die Kirche. dok
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