Stuttgarter Zeitung Südwestdeutsche Zeitung 30.12.1998



"Setzt mir nur einen blanken Stein''

Der alte Tübinger Stadtfriedhof, Ruhestätte vieler historischer Personen, könnte ein Park werden

Der alte Tübinger Stadtfriedhof gehört zu den herausragenden Kulturdenkmalen der Unistadt. Dennoch wird darüber diskutiert, ob man ihn in eine parkähnliche Grünanlage umwandeln soll.

Von Michael Petersen

Wer durch das ärmliche schmiedeeiserne Tor in den alten Tübinger Stadtfriedhof tritt, darf vor sich keine bedeutenden Kunstwerke erwarten. "Für die Professoren im pietistischen Tübingen hätte Kunst kein Prestige gehabt. Die meisten haben vielmehr Wert darauf gelegt, daß ihre Titel auf den Grabsteinen hervorstechen'', sagt Helmut Hornbogen, der sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte dieses Friedhofs beschäftigt. Für ihn liegt der Reiz der Anlage in ihrer Gesamtheit. Wegen der Bäume, wegen der Hecken, die Gräberfelder in Abschnitte teilen. Je nach Sonnenstand sorgt auch der Lichteinfall für einen sehr beschaulichen Eindruck.
Richtig bedeutend wird der alte Friedhof freilich wegen der Leute mit ihren großen Namen, die dort begraben sind. Von ihnen haben auf diesem Friedhof mehr als anderswo im Land eine letzte Ruhestatt gefunden. Wenn Hornbogen, Kulturredakteur des "Schwäbischen Tagblatts'', zu einer seiner Führungen durch den Friedhof einlädt, wird er von 400 Tübingern begleitet, denen Namen wie Friedrich Hölderlin, Ludwig Uhland, Isolde und Hermann Kurz, Friedrich Silcher oder Ottilie Wildermuth, aber auch Carlo Schmid oder Kurt Georg Kiesinger etwas bedeuten. Mit einer Flüstertüte muß sich Hornbogen verständlich machen, wenn er zwischen den Gräbern zu erzählen beginnt.
Scheinbare Nebensächlichkeiten machen seine Vorträge spannend. Neben Uhland liegt seine Frau Emilie begraben. Ihrem Wunsch gemäß soll die Anlage lediglich von Efeu und Immergrün bewachsen sein. "Manche Besucher stört, daß kein Blumenschmuck zu sehen ist'', sagt Hornbogen und lächelt. Aber nach seiner Erklärung sind die Begleiter zufrieden. Von ihm können sie auch erfahren, warum Uhlands Grabstein so schlicht ausgefallen und nach Osten ausgerichtet ist. Schon im März 1812 hatte der Dichter notiert: "Setzt mir nur einen blanken Stein, / Nicht Bilder drauf, noch Worte drein,/ Doch sollt ihr ihn nach Osten kehren,/ So wird ihn Morgenrot verklären.''
Oder: Friedrich Hölderlins Halbbruder Karl Gok hat auf den hellgrauen, 1,90 Meter hohen Sandstein Namen und Todestag des Dichters einmeißeln lassen. Auch das Geburtsdatum ist angegebenen, doch es ist nicht ganz korrekt. "29. statt 20. März'', korrigiert Hornbogen in seinem Buch "Der Tübinger Stadtfriedhof - Wege durch den Garten der Erinnerung'' (Verlag Schwäbisches Tagblatt). Am Kreuz auf dem Grabstein ist ein Haken zu erkennen. Dort sollte ein kupferner Lorbeerkranz seinen Platz finden. Gleich mehrere davon waren im Laufe der Jahrzehnte angefertigt worden - und immer wieder als Souvenirs abhanden gekommen. Der letzte wird seit gut 20 Jahren im Tübinger Kulturamt verwahrt, sicherheitshalber. 1943 ließen die Nazis die Grabstatt Friedrich Hölderlins vergrößern. Damit Platz für die des hundertsten Todestags Hölderlins Gedenkenden geschaffen wird, mußten viele umliegende Gräber weichen. "Am 7. Juni 1943 wurde des Dichters Grab haufenweise von braunem Lorbeer bedeckt. Über dem Stein hing der Kranz des Adolf Hitler'', sagt Hornbogen zu einem entsprechenden Foto.
Wenn Hornbogen vor dem Grab des Geologen Professor Friedrich August Quenstedt steht, kann er nur auf eine kleine Rasenfläche zeigen. Weil niemand für die Grabpflege aufkam, wurde dessen Grabstein 1978 ebenso abgeräumt wie jener der Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Mathilde Weber. ¸¸In den siebziger Jahren ist besonders brutal vorgegangen worden'', berichtet Hornbogen von den Veränderungen des Friedhofs, seit ein Hufschmied namens Engelfried am 30. November 1829 als erster dort zur letzten Ruhe gebettet wurde.
Das kaum mehr als drei Hektar große Areal in Tübingens Stadtgebiet wurde immerhin 1987 unter Denkmalschutz gestellt. 1834 erklärte das Landesdenkmalamt 3900 Gräber für erhaltenswert. Ob sie erhalten bleiben, ist dennoch offen. "Durch die Ausweisung als Kulturdenkmal wurden auf dem Stadtfriedhof nur auf Wunsch der Angehörigen Gräber abgeräumt'', ist einer Vorlage des Tübinger Gemeinderats zu entnehmen. "Dadurch entstand eine sehr kleingliedrige Struktur, welche einen sehr hohen Pflegeaufwand erfordert'', heißt es weiter. 175.000 Mark im Jahr für die Pflege des Friedhofs sind der Stadtverwaltung offensichtlich zuviel. Ihr Vorschlag: Erhaltenswerte Grabdenkmale sollten zentral an verschiedenen Punkten zusammengefaßt werden. Nur ganz außergewöhnliche Grabstätten wie jene von Hölderlin und Uhland sollten an ihrem Platz belassen werden. Dennoch kommt sie zu dem Fazit: "Durch die Maßnahmen wird der Stadtfriedhof allmählich in eine pflegeleichte, parkähnliche Grünanlage umgewandelt.''
Ein Gemeinderatsbeschluß vor 30 Jahren macht dies möglich. Er hatte die Schließung des Stadtfriedhofs vorgesehen. Grund waren Pläne für eine Nordtangente, die die Friedhofsflächen streifen sollte. Der Verkehr hätte die Pietät des Ortes nachhaltig gestört, hieß es. Diese Straße freilich wurde nie gebaut, der Ratsbeschluß wurde dennoch nicht zurückgenommen. "Rettet den alten Tübinger Stadtfriedhof!'' appellierte der Schwäbische Heimatbund bereits vor einigen Wochen.
Heimatbund wie Hornbogen schwebt eine ganz andere Zukunft des Friedhofs vor, die Rettung durch frische Gräber. Derzeit kann dort nur bestattet werden, wer Ehrenbürger der Stadt war oder über ein Familiengrab verfügt. Entsprechende 80jährige Nutzungsrechte wurden bis 1950 vergeben. Die letzte Beerdigung wird spätestens 2010 erfolgen. "Friedhöfe, auf denen keine Bestattungen mehr vonstatten gehen, die ohne offene Erde, ohne frische Gräber sind, werden auch von niemandem mehr als sakraler Ort erlebt'', meint Hornbogen. Er fürchtet Vandalismus und Verwahrlosung durch eine Musealisierung oder Umgestaltung zum Freizeitpark. Für ihn steht fest: "Letztlich kann dieses einzigartige Kulturdenkmal allein dadurch gerettet werden, daß weiter auf ihm beerdigt wird.'' Pflegende Angehörige seien die besten Parkwächter, ist auch die Erfahrung des Schwäbischen Heimatbundes. Inzwischen haben Gemeinderatsfraktionen das Thema aufgegriffen, die neue Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer wird sich bald um den alten Tübinger Stadtfriedhof kümmern müssen.

Atrikelübersicht


© 1998 Stuttgarter Zeitung, Germany